Achtsamkeit, eine Spurensuche
Von Manfred Repp
Gerd Radusch ärgerte sich wieder einmal über die Unachtsamkeit einiger Menschen, die ihm täglich begegneten. Gerade wollte er den Eingang eines Supermarktes passieren, als er von im Eingang stehenden breit hüftigen Frauen aufgehalten wurde. Die Damen hatten ihre Einkaufswagen alle quer gestellt, ein Durchkommen war unmöglich. Die Frauen waren in ihr Gespräch vertieft und bemerkten Radusch nicht. Er hüstelte kurz, erst sehr leise, was von den Frauen nicht bemerkt wurde. Er wiederholte es noch einmal, aus dem Hüsteln wurde jetzt ein Husten. Wieder blieben die Frauen unbewegt. Radusch vernahm einige Sprachfetzen aus dem Alltag der Frauen und hörte heraus, dass sie über Kinder, Kitas, Schulen und über die Familie redeten. Blitzschnell wurde Raduschs Gehirn von einer Gedankenwelle überschwemmt, wogegen er sich anfangs noch wehrte, aber vergeblich. Er bemerkte, wie sich Wut seiner bemächtigte und in seiner Vorstellung passierte allerhand mit den immer noch den Eingang versperrenden Frauen. Der dicksten unter ihnen, dick waren sie alle, aber der, wollte er am liebsten richtig saftig in den Hinter treten. Wahrscheinlich würde sie es nicht einmal merken, denn ihr Hintern besaß ein beträchtliches Fettpolster. Der Wortführerin hätte er am liebsten ihre schnelle, sich immer in Bewegung befindende Zunge festgenäht, um wenigsten einige Sekunden Stille zu haben. Der Dritten würde er den Einkaufswagen heftig gegen die Beine rollen, damit sie endlich ihre Umgebung wahrnehmen würde. Radusch hielt inne, verscheuchte seine Gedanken, was ihm schwer fiel, und bat mit etwas zu leiser Stimme um Durchlass. Oh Wunder, eine der Frauen bemerkte ihn, übernahm die Verantwortung und befahl in einem barschen Ton, allen anderen doch mal den Weg frei zu machen, so als hätte sie mit der gesamten Angelegenheit nichts zu tun. Radusch passierte die Frauen und ihre Einkaufswagen, als eine von ihnen beide Arme hob, um ihre Haare zu richten. Ein Büschel langer schwarzer Haare wurde in der Achselhöhle sichtbar, und ein etwas übler Schweißgeruch bemächtigte sich seines Riechorgans. Radusch beschleunigte seinen Schritt und versuchte so schnell wie möglich, sich von den Frauen zu entfernen, nicht ohne eine Blick zurück zu werfen und dabei festzustellen, dass alle Frauen ihren massigen Körper und stempelartigen Beine in enge Leggins gezwängt hatten. Radusch erinnerte sich an seine Jugendzeit und dass damals nur Proletenfrauen Leggins trugen. Endlich verschwand er in dem Supermarkt, um einzukaufen, aber er war nicht ganz bei der Sache und seine Gedanken bewegten sich zwischen Achtsamkeit und Unachtsamkeit und er fragte sich, ob er denn persönlich achtsam sei. Ein klares Bejahen brachte er nicht zustande, was ihn sehr betrübte und er sich selber versprach Besserung, einkehren zu lassen. Radusch von der Arbeit kommend, wie immer schnellen Schrittes, blieb plötzlich stehen, nahm auf einer Bank nahe des Weihers Platz. Ein Schwanenpärchen segelte stolz, im Schlepptau ihre Jungen, durch das Gewässer. Ein ruhiger fast majestätischer Anblick, alles schien seine Ordnung zu haben, die Gruppe strahlte eine starke Achtsamkeit aus. Lange Zeit blieb sein Blick haften und folgte der Schwanenfamilie, bis eine aufkommende Unruhe seine Aufmerksamkeit verlangte. Ein Vater rannte hinter seinem Kind her, das im schnellen Tempo auf das Gewässer zusteuerte. Der Vater, ein etwas dicklicher Mann, versuchte zu folgen, geriet aber ob des Tempos ein wenig außer Atem und konnte den Jungen nicht mehr einholen. Er plumpste ins Wasser, schrie fürchterlich. Die Schwaneneltern, die mit ihren Jungen noch in der Nähe waren, griffen den im Wasser liegenden brüllenden Jungen an. Schon von weitem schrie der Vater. Die Schwäne zeigten sich gänzlich unbeeindruckt. Der Junge planschte im Wasser herum, schrie jämmerlich, die Schwäne wurden angriffslustiger, und endlich warf sich der unbeholfene Vater ins Wasser, genau zwischen die Schwäne und seinen Jungen. Ein Schwan zerrte an der Hose des Mannes, andere Männer kamen zu Hilfe und vertrieben die Schwanenfamilie. Endlich brachte der Vater seinen durchnässten Jungen wieder ins Trockene und versuchte ihn zu beruhigen. Wo war seine Achtsamkeit im Augenblick, als der kleine Junge sich so weit von seinem Vater entfernen konnte? Der Begriff Achtsamkeit ließ Radusch nicht mehr los. Er kreuzte seine Gedankenwelt, wie ein steuerloses Schiff den Ozean. Nach einem hektischen Arbeitstag saß Radusch auf seinem Sofa und zappte sich durch die Fernsehprogramme. Er war nicht in der Lage, auch nur bei einem einzigen Sender länger als zwei Minuten zu verweilen. Er bemerkte, dass er überhaupt nicht zuhören konnte und erwartete von jedem neuen Programm, dass es ihn stärker fesselte, als das Vorige. Sein Blick landete nicht auf dem Bildschirm, sondern ging durch ihn hindurch und prallte von der Wand hinter dem Fernseher wieder ab, um zu ihm zurück zu gelangen. Diese unsinnige Beschäftigung macht ihn nervös und er ging im Zimmer auf und ab, nahm eine Bierflasche aus dem Kühlschrank, ohne sie zu öffnen und zu trinken. Vor dem Fenster blieb er stehen, schaute auf die Straße, sah dort Pärchen Hand in Hand ruhig flanieren, daneben aber auch schnell sich fortbewegende Menschen, die irgendein Ziel hatten, was sie schnellstens erreichen wollten. Autos fuhren die Straße entlang und machten teilweise einen unerträglichen Lärm. Radusch wollte weg, woanders hin, einen Ort finden, der ihm Ruhe und vielleicht auch Geborgenheit geben würde. Aber wohin? Er konnte sich auf nichts konzentrieren, er, der häufig Achtsamkeit von anderen einforderte, war selber nicht in der Lage, ihr auch nur ein wenig nahe zu kommen. In seinem Kopf tobte ein Tsunami von wilden durcheinander wirbelnden Gedanken, die ihn veranlassten fluchtartig seine Wohnung zu verlassen. Er hastete die Straße entlang, ohne zu wissen wo hingehen wollte. Plötzlich fiel ihm eine kleine Kneipe mit dem Namen Pause im Stadtpark direkt am See ein. Wenig später hatte er sie erreicht, nahm auf der winzigen Terrasse, an einem sehr kleinen Tisch Platz. Der Kellner, ein Zopfträger mit Drei –Tage - Bart, ließ sich Zeit, bis er an seinen Tisch kam und nach seinen Wünschen fragte. Außerordentlich konzentriert gab er auf die Fragen von Radusch Antwort und notierte alles auf einem kleinen etwas altmodischen Block. Seine Bewegungen waren langsam aber flüssig, seine Art zu gehen hatte fast etwas Tänzerisches. Radusch nippte an seinem Getränk, das der Kellner ihm gebracht hatte und wartete auf den bestellten Salat. Der Kellner wirkte ansteckend, Radusch aß langsam, nippte bedächtig an seinem Glas mit dem Gemüsesaft und schaut auf die Wasservögel, die ebenfalls langsam und gemächlich sich bewegten. Keine Eile, nichts störte ihre gemächliche Fortbewegung. Radusch wurde ruhiger, hing seinen Gedanken nach, die nunmehr nicht mehr durch sein Gehirn hasteten, sondern ebenfalls etwas geordneter und nacheinander durch seinen Geist flossen. Weit weg von allem hörte er plötzlich die sanfte Stimme des Kellners. „Vielleicht interessiert Sie das,“ sagte er leise und reicht ihm einen Flyer.“ „Zen-Meditation, mit Meister Kurasako“, war darauf zu lesen und eine Anschrift war angegeben. Der Kellner lächelte und kehrte zur Theke zurück. Von dort nickte er Radusch noch einmal zu. Radusch informierte sich über den Flyer, lehnte sich zurück und beobachtete den Kellner. Ein Jesustyp, der all das hatte, was ihm fehlte. Beeindruckend war dieser junge Mann, zumal er auch alle anderen Gäste in der gleichen ruhigen Art bediente, wie er auch Radusch bedient hatte. Radusch verließ das Lokal, schlenderte noch eine Weile langsam am See entlang, um irgendwann vor seiner Wohnung zu landen. Kaum oben angekommen, er wohnte in der dritten Etage, legte er sich auf sein Bett und schlief übergangslos ein. Am nächsten Tag suchte Radusch das Dojo auf, das auf dem Flyer angegeben war, und nahm an einer Zen-Meditation teil. Sie sollte eineinhalb Stunden dauern und war total durchritualisiert. Eineinhalb Stunden im Schneider oder Lotussitz vor einer weißen Wand hocken. Ob er das durchhielt, bezweifelte er. Dem Atem sollten sie folgen und nicht denken. Wie soll das denn gehen, seine Gedanken nahmen Geschwindigkeit auf und kreuzten hin und her durch seinen Kopf. Er konnte nicht aufrecht und gerade sitzen, immer wieder fiel er in sich zusammen, sein Körper wackelte hin und her, und die Knie schmerzen ihm so sehr, dass er am liebsten laut auf geschrien hätte. Seinem Atem folgen, das war die Aufforderung des Meisters. Nach 45 Minuten durften alle langsam und bedächtig gehen, wieder dem Atem folgend. Neue Knie bräuchte er, dachte Radusch während der Session. Er wollte sich nicht mehr hinsetzen, aber andererseits wallte er auch durchhalten, kein Weichei sein. So setzte er sich wieder hin und überließ sich dem Schmerz. Der Meister erzählte eine Zen-Geschichte: „Ein junger Mönch begab sich an einem regnerischen Tag in das Zen Kloster eines bekannten Meisters. Er bat um Einlass, der ihm gewährt wurde und wurde zum Meister vorgelassen. Eine Zeitlang saßen sie schweigend voreinander, der Meister und der Mönch. Schließlich klingelte der Meister mit dem Glöckchen, was dem Adepten gestattete eine Frage zu stellen. Wann werde ich erleuchtet sprudelte es aus dem Mönch heraus. Der Meister schwieg lange und schaute ihn ebenso lange an. Dann fragte er den Mönch; du hast doch heute bestimmt einen Regenschirm getragen, um dich vor dem Regen zu schützen, oder? Hast du den Schirm rechts oder links von der Türe abgestellt, bevor du das Kloster betreten hast? Es durften nämlich keinerlei Gegenstände mit in das Kloster genommen werden. Verwirrt blinzelte der Mönch mit den Augen und es wurde ihm heiß und kalt, bis er schließlich stotternd antwortete, dass er es nicht mehr wisse. Daraufhin läutete der Meister das Glöckchen, was bedeutete, dass der Mönch das Kloster zu verlassen hätte. Am Ende der Geschichte war auch das qualvolle Sitzen zu Ende, alle rafften ihre Kissen zusammen und gingen ritualisiert aus dem Dojo. Im Zen geht es in erster Linie um Aufmerksamkeit, hatte Radusch gelesen. Die anzustreben war wohl schwerer als jede Diät einzuhalten. Es war ein sonntäglicher Morgen, und Radusch liebt es durch die Schrebergartenkolonie zu gehen. Er verglich dann die verschiedenen Gärtchen und die verschiedenen Stilarten. Vom reinen Blumengarten bis zum Gemüsegarten gab es fast alles. Ganz am Ende des Weges hatte er schon häufiger einen alten Mann beobachtet, der ruhig und gelassen seinen Garten durchquerte, hier und da stehen blieb, an den Pflanzen roch und sie mit seinen Fingern betastete. Wie er das machte, war bewundernswert. Seine Finger glitten nicht über die Blätter, nein sie tanzten darüber. Er tat das so behutsam, wie jemand, der niemanden verletzen möchte, auch nicht die Pflanzen. Radusch blieb stehen und beobachtete den alten Mann eine ganze Weile. Der Mann dreht sich zu ihm um, und winkte Radusch herein in den Garten. Sie setzten sich auf die Bank vor dem kleinen Häuschen und der Alte zog eine Pfeife aus der Brusttasche und stopfte sie mit Tabak. Dann nahm er eine etwas breiteres, weiches Holz und bohrte mit einem Rundstab, den er zwischen den Händen kreisförmig bewegte und versuchte das Ganze zum Glühen zu bringen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der der erste Rauch aufstieg. Dann nahm er einen Fetzen einer alten Zeitung, hielt ihn an das Holz, bis es brannte und zündete sich damit die Pfeife an. Genüsslich zog er an der Pfeife, blies den Rauch in den Himmel und schaute ihm Gedanken verloren nach. „Warum machen Sie sich das nicht einfacher und nehmen ein Feuerzeug oder Zündhölzer?“ fragte Radusch ihn schließlich. „Einfacher“, antwortete der Alte“, einfacher und schneller ist nicht das Ziel, sondern das Tun, das einfache Tun ; das ich das kann, das verschafft mir ein ungeheures Glücksgefühl. Mehr muss nicht sein, aber das ist es“, sagte der Alte und zog wieder an seiner Pfeife, während sich sein Blick in der Ferne verlor. Radusch hatte sich Wanderschuhe gekauft und einen Weg entlang der Bahngleise, die von beiden Seiten von einem Wald eingerahmt wurden, ausgemacht. Aufmerksam die Bäume beobachtend bewegte er sich ruhiger als sonst des Weges. Er versuchte Bäume und Büsche zu erkennen und nannte sie beim Namen, sofern sie ihm einfielen. Plötzlich sah er eine Katze über die Gleise balancieren. Immer wieder blieb sie stehen, beobachtete ihre Umgebung, spielte mit den Ohren, drehte sie nach allen Seiten, um alle Geräusche aufzunehmen, reckte das Näschen in die Luft, ging wieder einige Schritte, um dann wieder stehen zu bleiben. Nichts schien ihr zu entgehen. Plötzlich raste die Katze davon, verfolgt von einem riesigen Hund, der aus dem Wald heraus schoss. Die Katze schlug mehrere Haken und ließ den Hund so ins Leere laufen, bis sie in ihrer größten Not einen Baumstamm hinauf kletterte, bevor sie es sich auf einem der oberen Äste bequem machte und gelassen zuschaute, wie der Hund immer wieder vergeblich gegen den Stamm sprang und kläffte, begleitet von dem Geschrei einer aufgeregten Frau, die vergebens versuchte ihn zu bändigen. Radusch bemerkte eine innere Ruhe, die sich seiner bemächtigte. Er nahm der Frau die Leine aus der Hand, versuchte, mit seiner ruhige Stimme den Hund zu besänftigen, ähnlich wie der Keller im Lokal Pause ihn besänftig hatte, und legte mit ruhiger Hand dem Hund die Leine an. Der Schwanz wedelnd, das Kläffen einstellte und übergab ihn der Frau. Diese machte dem Hund noch einige bittere Vorwürfe und ging davon. Radusch warf einen letzten Blick auf die Katze, die immer noch auf dem Ast saß und zu ihm herunterschaute. „Danke“, rief er nach oben. Danke allen, die mir in letzter Zeit so viel über Achtsamkeit beigebracht haben. Danke allen!“
Manfred Repp 09.06. 2018
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